Rückblick.

Rückblick.

Beitragvon -sd- » 26.06.2022, 20:47

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Rückblick

Kussen mußte ich gemeinsam mit meinen Großeltern Pranzkat und meiner Tante
Evelore das erste Mal am 19.10.1944 mit dem Treck über Breitenstein (Kraupischken)
nach Grünhayn, Krs. Wehlau, verlassen. Ende Januar 1945 kamen wir in Seerappen,
vor Pillau, unter die Russen. Meine Tante Lydia wollte uns in Grünhayn abholen.
Irgendwie war auch noch unsere Nachbarstochter Erika Behrendt zu uns gestoßen.

Für uns fünf begann ab Seerappen ein dezimierender Fußmarsch durch den
ostpreußischen Winter. Einige Male wurde auch unter freiem Himmel übernachtet.
Obwohl zahlreiche Opfer den Weg markierten, wurde der Treck immer länger. Unsere
beiden Mädchen, Evelore und Erika, wurden mit der Begründung: „Müssen bauen,
was Deutsche kaputt gemacht", vom Treck abgetrennt. Sie sind bis heute verschollen.

Besonders schlimm habe ich die Nacht vom 12. auf den 13. April 1945 in Erinnerung.
Der Treck, aus heutiger Sicht etwa 500 Personen, zog von Georgenburg her
kommend durch Gumbinnen in Richtung Ebenrode (Stallupönen). Es spielten sich
erschütternde Szenen ab, denn ab da hieß es: „Jetzt geht es nach Sibirien!" Am
Morgen des 13. dann der Befehl zur Umkehr. In Gumbinnen ging es rechts ab in
Richtung Roßlinde (Brakupönen). Noch eine Übernachtung, und wir waren am Ziel.
Welch eine Überraschung, es war die künftige Militärsowchose Wesnowo (Kussen).
Am 15.04.1945, dem Geburtstag meiner Tante, war ich als siebenjähriger Junge also
wieder in Kussen. Der Treck wurde in Schloßberg registriert und nach Lindenhaus
(Szameitkehmen) und Kussen aufgeteilt.

Über die Jahre unter den Russen in Ostpreußen, besonders in Kussen, schreibt
Pfarrersfrau Hildegard Kühnapfel in ihrem Buch „Auch in der Hölle bist du da" trauriger
als ich es erzählen kann. Auch als Kinder mußten wir in der Landwirtschaft Zwangsarbeit
leisten. Diese Zeit überlebten nicht viele. Wenn ich heute nachdenke, lebten
im Sowchos etwa 350 Deutsche aus dem Treck. Später kamen nach und nach noch
einige Bewohner in ihre Heimatorte zurück, die alle nach Kussen zu Schwerstarbeit
geholt wurden. Je 10 Frauen zogen den Pflug oder eggten, die Felder wurden mit
Hacken bearbeitet, deren Stiele 60 cm lang waren. Die 60 cm waren als besondere
Schikane gedacht. Hunger und Krankheit brachten zahlreichen Tod. Am 19.10.1948,
der Fluchttag vor vier Jahren, verließen drei offene Lkws, ich schätze zu je 25 Deutsche
mit ihren Habseligkeiten, Kussen in Richtung Haselberg (Lasdehnen). Nach der
erneuten Registrierung ging es weiter nach Tilsit zur Übernachtung in der Ruine der
Ordenskirche, ich habe die Brücke in Erinnerung. Mit der Bahn ging es nach Königsberg,
wo uns dann auch noch das Letzte abgenommen wurde. Meine Großmutter
hatte in ihrer Bibel Zettel mit Notizen (Daten, Namen Verstorbener) versteckt. Auch
diese wurden herausgeschüttelt. Wären Bibelseiten beschrieben gewesen, hätten
die Russen die Bibel auch behalten. Nach 10 Tagen Bahnfahrt im verplombten Viehwagen
erreichten wir Pasewalk.

Winfried Hopp
* 2. März 1938 in Pillkallen, + 17. November 2018 in Berlin-Spandau.

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